Seitenstetten 2021

Josquin Desprez

Josquin Desprez (eigentlich wohl Josse Lebloitte dit Desprez – Josquin ist eine Verkleinerungsform von Josse –, andere Benennungen und Namensformen sind Josquin d’Ascanio, Josquinus Pratensis, Iodocus a Prato sowie diverse Kombinationen daraus) wurde wohl um 1450/55 in Nordfrankreich geboren, vermutlich in oder um Saint Quentin. Über seine Jugend ist nichts bekannt, außer daß 1466 sein Onkel Gille Lebloitte dit Desprez und seine Frau ein Testament zu seinen Gunsten aufgesetzt hatten. Sämtliche weiteren Aussagen stammen aus Quellen aus deutlich späterer Zeit und sind entsprechend wenig zuverlässig. Etwa die, daß Josquin – vielleicht zusammen mit seinem Freund(?) Jean Mouton – um 1460 Chorknabe in Saint Quentin wurde, oder daß er Schüler von Johannes Ockeghem war (den er allerdings tatsächlich kannte und bewunderte). Es kann als gesichert gelten, daß er zu Beginn der 1470er Jahre bereits ein berühmter Komponist war, denn er wird in der Motette „Omnium bonorum plena“ des etwas älteren Loyset Compère, die eine Fürbitte für eine Reihe bedeutender Komponisten enthält, unter diesen aufgeführt; diese Motette wurde vermutlich für die Weihe der der Kathedrale von Cambrai 1572 komponiert, auf jeden Fall aber nicht später als 1574, das Todesjahr von Guillaume Dufay, der die Reihe der Komponisten anführt.

Für die Jahre 1477 und 1478 ist Josquins Anstellung als Sänger in der Kapelle des überaus kunstsinnigen Herzogs René von Anjou in Aix-en-Provence dokumentiert (was nicht ausschließt, daß er bereits in den Jahren vorher dort tätig war). Möglicherweise ging seine Anstellung auch noch länger. 1480 starb René, der Staatsbesitz, zu dem auch die Kapelle gehörte, fiel kurz darauf als „Krondomäne“ an König Ludwig XI. und die Kapelle hatte sich an ihren neuen Dienstsitz Paris zu begeben. Vielleicht war Josquin dabei. Es gibt andererseits Hinweise, daß er sich nach 1480 bereits in Italien im Dienst des späteren Kardinals Ascanio Sforza befand. Schließlich erwähnt ein Dokument aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, das die ungarische Hofkapelle zu jener Zeit beschreibt, unter ihren Mitgliedern sei auch Josquin gewesen.

1483 jedenfalls hielt er sich in Conde-sur-l’Escaut auf, unweit seines Geburtsortes an der Grenze zu Burgund (heute zu Belgien), um das Erbe seines Onkels anzutreten und die Verwaltung des geerbten Grundbesitzes zu organisieren. Anschließend, im selben oder folgenden Jahr, begab er sich definitiv in den Dienst von Ascanio Sforza in Mailand. Von dort aus unternahm er mehrere Reisen nach Rom, möglicherweise auch nach Paris.

1489 wurde Josquin Mitglied der päpstlichen Kapelle, nachdem er möglicherweise dort bereits seit 1586 „als Gast“(?) mitgewirkt hatte, und blieb es wohl bis 1495. Ein mittlerweile berühmtes Graffito „Josquinus“, einer unter Hunderten von an der Cantoria (Sängerkanzel) der Sixtinischen Kapelle verewigten Sängernamen, würde, wenn es von unserem Josquin stammte – wovon die Wissenschaft inzwischen ausgeht –, aus dieser Zeit stammen. Es ist, sofern nicht doch noch Gegenbelege auftauchen, das einzige „Autograph“ unseres Meisters.

Wie Josquin die Zeit nach der Anstellung bei der päpstlichen Kapelle verbracht hat, ist wieder mal unsicher. Daß er dem burgundischen König Philipp dem Schönen 1495 ein Exemplar seines Stabat Mater zuschickte, legt die Vermutung nahe, daß den Noten die Anfrage nach einer Anstellung beilag. Falls dem so war, wurde diese Anfrage wohl abschlägig beschieden, denn es spricht vieles dafür, daß Josquin einige Jahre Mitglied der Hofkapelle des französischen Königs Ludwig XII. war.

Während dieser Zeit, im Jahr 1497, starb der Hofkapellmeister des Herzogs Ercole I. d’Este in Ferrara. Der Herzog war wohl recht wählerisch, jedenfalls zog sich die Suche nach einem Nachfolger jahrelang hin. Schließlich gerieten auch Josquin und Heinrich Isaac ins Visier der Agenten, die einen neuen Kapellmeister auftun sollten. Einem dieser Agenten namens Gian de Artiganova verdanken wir das einzige Dokument über den Charakter Josquins (und Isaacs; vielleicht erinnert sich jemand an die Musikwoche 2017, wo ich es schon einmal erwähnt habe). Als es letztlich darum ging, wer von diesen beiden Meistern die Anstellung bekommen sollte, schrieb Gian an den Herzog: „Mir scheint er [Isaac] gut geeignet, Euer Gnaden zu dienen, besser als Josquin, weil er zu seinen Musikern von liebenswürdigerem Wesen ist und öfter neue Werke komponieren will. Dass Josquin besser komponiert, ist richtig, aber er komponiert, wenn er es will und nicht, wenn man es von ihm erwartet, und er verlangt 200 Dukaten als Lohn, während Isaac für 120 kommen will …“ Josquin war der Beste und wußte es genau, übermäßige Bescheidenheit war ihm anscheinend nicht eigen. Trotz der Empfehlungen seines Agenten entschied sich der Herzog für Josquin. Im Juni 1503 erfolgte die erste üppige Gehaltszahlung an ihn.

Bereits ein Dreivierteljahr später, im April 1504, wurde die letzte Zahlung an ihn angewiesen, denn er hatte die lukrative und sicherlich musikalisch ebenso erfüllende Stellung bereits wieder aufgegeben und war Hals über Kopf in seine Heimat, nach Condé-sur-l’Escaut, gereist. Grund dafür war die in Ferrara grassierende Pest.

In Condé-sur-l’Escaut wurde Josquin Propst an der Kirche Notre Dame; eine Stellung, die beträchtlichen weltlichen und geistlichen Einfluß mit sich brachte, zumal die dortige Musikausübung von hoher Qualität war. Diese Stellung behielt er 17 Jahre, bis zu seinem Tode, bei. Er starb am 27. August 1521. Der Kirche Notre Dame vermachte er ein Haus und Grundbesitz, u.a. unter der Auflage, daß bei Prozessionen durch die Stadt sein vermutlich letztes Werk, die Doppelmotette „Pater noster – Ave Maria“ vor seinem Haus am Marktplatz zu singen sei.

Wie soll man Josquins Werk würdigen? Er war ohne Zweifel der bedeutendste Komponist der Zeit um 1500; ob auch der beste, oder ob nicht zumindest ein Heinrich Isaac neben ihm Platz findet (meiner bescheidenen Meinung nach durchaus), läßt sich wohl nicht beantworten. Aber sein großes Renommee brachte es mit sich, daß unzählige Kopisten seinen Namen an ihre „Hervorbringungen“ (was durchaus nicht durchweg negativ gemeint ist) schrieben, um sie besser verkaufen zu können. So ist ein nicht unbeträchtlicher Teil dessen, was unter Josquins Namen auf uns gekommen ist, wohl nicht von ihm, darunter ausgesprochene „Lieblinge“ wie „La Spagna“ – was mich nicht gehindert hat, es trotzdem in diese Sammlung aufzunehmen –, selbst vor dem großen „Mille regretz“ macht die Skepsis der modernen Forschung nicht halt. Insofern ist eine Beurteilung des Gesamtwerks schwierig, da es nicht sauber definiert ist. Das Problem mit den falschen „Josquins“ war durchaus schon in alten Zeiten bekannt. Vom Liedersammler und Komponisten Georg Forster stammt der Ausspruch aus dem Jahr 1540: „Ich erinnere mich an einen bedeutenden Mann, der sagte, dass Josquin jetzt, da er tot ist, mehr Werke herausbringt als zu Lebzeiten.“

Zusammenfassend kann man dem berühmten Ausspruch von Martin Luther wohl zustimmen: „Josquin ist der noten meister, die habens müssen machen, wie er wolt; die andern Sangmeister müssens machen, wie es die noten haben wöllen.“